Vorzimmer zur Hölle
Eine Erzählung von Paul Brandl
Ich sah von meinem Schreibtisch auf und da stand sie. Verwirrt, mit großen, ängstlichen Augen und noch etwas Rauch in den Haaren. In ihrer Hand das übliche Formular. Ich winkte sie zu mir her. Sie drehte sich schüchtern um, ob ich vielleicht jemanden hinter ihr meinen könnte, und kam dann zögerlich näher.
„Was haben wir denn da?“, fragte ich freundlich und streckte meine Hand nach den Papieren aus. Die junge Frau gab sie mir und ich bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Da es im Büro höllisch heiß war, konnte es nicht daran liegen, dass sie fror. Ein leichtes Schmunzeln überkam mich.
„Aha!“, sagte ich in gespielter Verärgerung, „da ist ja noch gar nichts ausgefüllt.“ Ich nahm einen von meinen roten Kugelschreibern, klickte mit dem Daumen darauf und kritzelte am Rande des Formulars hin und her. Typisch! Geht nicht. Mit einem Seufzen warf ich ihn in den Abfalleimer unter meinem Schreibtisch und griff zu einer Schreibfeder.
„Name?“
„Ich sollte nicht hier sein…“
„Dazu kommen wir später. Name?“
„Betty Walther.“
Ich trug ihren Namen in die dafür vorgesehene Zeile ein. Einen Druckbuchstaben nach dem anderen. Langsam und deutlich. Ich liebe diese Stille, die nur durch das leise Kratzen des Federkiels unterbrochen wird.
„Grund Ihres Aufenthalts?“
„Was… was meinen Sie damit?“
Ich legte die Feder neben das Formular, lehnte mich zurück und presste die Fingerkuppen aneinander. „Nun“, sagte ich, „da dies eine Hölle des Christentums ist, müssen Sie ja gegen mindestens eines der Zehn Gebote verstoßen haben. Können Sie mir dieses spezielle Gebot oder, um die Sache abzukürzen, auch mehrere missachtete Gebote nennen?“
In ihre verständnislosen Augen schossen Tränen, die aber sofort zu verdampfen anfingen. Hinter ihr tauchten inzwischen weitere arme Seelen auf. Meine Kollegen kümmerten sich um sie.
Ich hatte einen guten Tag und ich wollte sie das spüren lassen. „Sehen Sie, das Verstoßen gegen eines der Gebote bringt Sie hierher, die Dauer Ihres Aufenthalts wird durch die Art des Gebotes bestimmt.“
„Ich bin nicht zur Kirche gegangen“, sagte sie mit zittriger Stimme.
Ich riss erschrocken die Augen auf und erhob mahnend den Finger. Dann lachte ich und schüttelte den Kopf. „Haben Sie vielleicht anderen Göttern gehuldigt? Gottes Namen missbraucht? Jemanden…“, meine linke Augenbraue zuckte während der Kunstpause nach oben, „ermordet?“
„Nein! Nein!“, Sie hob abwehrend die Hände, „das hätte ich nie und nimmer getan.“
Ich tauchte den Kiel wieder in das Tintenfass machte ein Häkchen bei Verstoß gegen Gebot 3: Du sollst den Tag des Herrn heiligen.
„Das sind dann nur, hm…“, ich überlegte, „ein, vielleicht zwei Jahre Fegefeuer mit anschließender Sicherheitsverwahrung im Paradies.“
Ihr Blick hellte sich auf. Ihre Augen leuchteten wie Kornblumen auf einer Sommerwiese. Mein Telefon läutete und ich nahm ab.
„Oh, oh!“ Ich blickte vom Telefon auf und direkt wieder in ihre wunderschönen blauen Augen, die jetzt wie Blumen zu verwelken schienen. Dann legte ich den Hörer auf.
„Schlechte Nachrichten. Die Person, der Sie die Vorfahrt genommen haben ist leider ebenfalls verstorben und damit…“, ich machte einen fetten Haken neben Verstoß gegen Gebot 5: Du sollst nicht töten, „haben Sie keine Chance mehr auf Berufung zur Barmherzigkeit.“
Bedauernd sah ich sie an. Sie, die vor mir jegliche Körperspannung verlor als sie begriff, was das bedeutete.
Ich lochte gelangweilt das Formular, legte es fein säuberlich in ihre Akte und fragte: „Wollen Sie den Fahrstuhl oder die Treppe ins ewige Feuer nehmen?“
ENDE
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